Teil I

Einsicht [in die Natur] des Urlichts im Zwischenzustand
der Todesstunde

 

 

Verwirklichung der Einsicht aufgrund früherer Übung
Die Übertragung des Bewusstseins
Die Geisteshaltung der Erleuchtung
Einsicht in das Urlicht

 

Verwirklichung der Einsicht aufgrund früherer Übung

Hierbei gibt es Wesen, die - obgleich sie gutes Verständnis besitzen - die Wahrheit nicht erkannt, und Wesen, die - obwohl sie diese erkennen - sie nur wenig verwirklicht haben, und alle Arten von einfachen Menschen, die die erbetenen mystischen Anweisungen geübt haben. Wenn diese [die Übung des Urlichts] angewandt haben, dann steigen sie, da sie ja das Urlicht [im Augenblick des Todes] verstehen, ohne Zwischenzustand, ohne Hemmnis zu dem geburtslosen Zustand des wahren Seins auf. Wie soll nun [die Übung des Urlichts] angewandt werden? Ist der geistliche Lehrer, von dem der Sterbende geistige Anleitungen erbat, gegenwärtig, dann ist es am besten. Ist dieser nicht anwesend, dann soll ein geistlicher Bruder, der Gelübde vom gleichen [Lehrer wie der Sterbende erhalten hatte], oder — wenn ein solcher nicht da ist, ein ehrwürdiger Lehrer der gleichen spirituellen Tradition und - wenn keiner von diesen vorhanden ist - irgendeine Person, die diese Worte deutlich und klar lesen kann, Die Große Befreiung durch Hören mehrfach lesen! Hat der Lama dem Sterbenden dadurch den Sinn der Anweisungen vergegenwärtigt, wird er augenblicklich des Urlichts ansichtig werden und ohne Zweifel die Befreiung erlangen.

Der Zeitpunkt für die Anleitung: Ist der äußere Atem versiegt und die Vitalität in den zentralen Nervenkanal eingegangen, dann steigt im Bewußtsein des Sterbenden ein von jeder Vorstellung freies Licht auf. Zieht die Vitalität sich zurück und beginnen der rechte und linke Nervenkanal sich voneinander zu lösen, dann steigt langsam die Wahrnehmung des Zwischenzustands auf. Solange der rechte und linke Nervenkanal sich noch nicht getrennt haben, soll Die Große Befreiung durch Hören gelesen werden.
Die Dauer: Der Zeitraum, in dem der äußere Atem versiegt ist, der innere Odem aber noch existiert, währt nur solange, wie man zum Verzehren einer Mahlzeit braucht.

 

Die Übertragung des Bewusstseins

Die Art und Weise der Anleitung: Es ist am günstigsten, wenn man die Bewußtseinsübertragung zu der Zeit vornimmt, da der Atem nahe am Versiegen ist. Nimmt man sie nicht vor, erkläre man folgendes:
»Sohn von edlem Stamm, N. N., da nun für dich die Zeit gekommen ist, einen Weg zu suchen, und nachdem dein Atem fast aufgehört hat, wird dir das, was man das Urlicht des ersten Zwischenzustands nennt, und dessen Sinn dir dein Lama früher vor Augen geführt hat, das Sein-an-sich, leer und bloß wie der Himmel als der unbefleckte nackte Geist, der klar und leer, ohne Begrenzung oder Mitte ist, aufgehen. Zu dieser Zeit sollst du dieses erkennen und eben darin verharren! Ich aber werde dich zu dieser Zeit zur Einsicht führen!«
Ehe der äußere Atem versiegt ist, wiederhole man dies viele Male nahe seinem Ohr und präge [den Sinn] seinem Geist ein! Wenn danach der äußere Atem fast versiegt ist, lege man [den Sterbenden] mit seiner rechten Seite auf die Erde und bringe ihn in die Löwenstellung. Dadurch wird das Pulsieren in der [rechten] Hauptarterie gehemmt, und die beiden Arterien werden stark gedrückt, bis der Puls zu schlagen aufhört [und ein] schlaf [ähnlicher] Zustand herbeigeführt wird. Nachdem die Vitalität in den Nervenkanal eingegangen ist und nicht mehr zurückkehren kann, ist es gewiß, daß sie durch die Fontanelle austritt. Auch während dieser Zeit wird die Anleitung vorgelesen. Zu dieser Zeit steigt im Geist aller Wesen eine ganz lautere Ahnung des wahren Seins auf, was man auch als das Licht des Seins-an-sich während des ersten Zwischenzustands bezeichnet.
Ist der äußere Atem versiegt, der innere Odem aber noch nicht, so ist der Zeitpunkt, da die Vitalität in den zentralen Nervenkanal eingeht, nahe. Einfache Leute sagen dazu, das Bewußtsein [des Sterbenden] würde ohnmächtig. Die Dauer [dieses Vorganges] ist ungewiß. Sie beruht auf der Qualität seiner geist-körperlichen Grundlagen und dem Fortschritt, [den der Sterbende] in der Vitalitäts-Meditation [gemacht hat]; bei jenen, die eine reiche yogische Übung und Festigkeit in der Meditation der Stille haben und zu denen gehören, deren Nervenkanäle geläutert sind, kann dieser Zustand lange dauern. Wenn dies zutrifft, dann soll man eifrig in der Anleitung fortfahren, bis aus den Öffnungen der Sinnesorgane eine gelbliche Flüssigkeit austritt. Bei denen, die voller Fehler und deren Nervenkanäle unrein sind, dauert dieser Zustand nicht einmal solange wie ein Fingerschnalzen. Bei einigen dauert er nicht länger als das Verzehren einer Mahlzeit. Da die meisten Sutras und ‘Tantras lehren, daß [dieser Zustand] drei und einen halben Tag andauere, und da er auch in den meisten Fällen drei und einen halben Tag anhält, soll man diese Anleitung mit Eifer betreiben!



Kommentar:
Der erste Zwischenzustand, der sich unmittelbar an das Sterben anschließt, ja dieses eigentlich noch mitbeinhaltet, ist in seiner Dauer abhängig vom Grad der spirituellen Läuterung, die der Sterbende zu Lebzeiten erreicht hat. Je mehr ein Mensch zu Lebzeiten den Leidenschaften und Verblendungen verfallen war, um so kürzer wird der Zwischenzustand der Todesstunde sein, und um so undeutlicher das Aufleuchten des Urlichts. Die große Chance, im Urlicht die eigene Geist-Natur zu erkennen, geht an diesem Menschen ungenutzt vorüber.
Nur wer zu Lebzeiten mit Eifer eine der vielen Spielarten der Licht-Meditation übte, der vermag im Zwischenzustand der Todesstunde dieses aufscheinende Licht als das zu erkennen, was es ist: die ungeschaffene Geist-Natur, die Buddha-Natur, die Leere. Diese Einsicht bringt die Freiheit; der Sterbende hat die höchste Erleuchtung erlangt, ist ein Buddha geworden. So spricht der erste Abschnitt dieses Teils eben von jenen, die zu Lebzeiten in ihren spirituellen Übungen schon sehr fortgeschritten sind und nun - da sie das Urlicht in seinem Wesen verstehen - die Befreiung erlangen.
Die Parallelsetzung von Licht, Denken, Sein ist ein weltweites Phänomen, das nahezu in jeder Religion einmal in Erscheinung tritt. Nach der Bibel rief der Schöpfergott mit seinem ersten Wort: »Es werde Licht!« sein Schöpfungswerk hervor (Gen. 1,3). Das Licht steht nicht nur häufig am Anfang der Weltwerdung, sondern ist auch das innerste Wesen, das Wahre Sein eben dieser Welt. Es ist erfahrbar in den Heiligen, in Gott und im eigenen Geist. In der von Platon geprägten Antike entfaltete sich eine Licht-Metaphysik, die im christlichen Abendland aufgenommen und modifiziert wurde. (Vgl. hierzu A. Haas: Der Lichtsprung der Gottheit. In: Typologia Litterarum, Festschrift für Max Wehrli, mit reichen Literatur-Angaben, Zürich 1969, 5. 219 ff.) In der Einleitung wurde gezeigt, daß schon in den ältesten schriftlichen Zeugnissen des Buddhismus sich diese Licht-Ideologie findet. Der Geist als Licht ist nicht eine Metapher, ein Bild, es ist eine innere Erfahrung seines Seins, wenn wir den Berichten der Mystiker der verschiedensten Religionen folgen. Die Licht-Meditation im Buddhismus ist primär ein Versenken in den eigenen Geist. Wenn alle Tätigkeiten des Geistes, dieser ununterbrochene innere Dialog, verebbt sind, wenn der Geist klar ist, kein Gedanke ihn mehr trübt, dann erscheint er lichthaft. Um diesen inneren Dialog zum Verstummen zu bringen, werden verschiedene Methoden angewandt: Man konzentriert sich auf Buchstaben (nicht auf Mantras!), auf Lichtkreise etc. (s. G. Tucci: in Tucci-Heissig: Die Religionen Tibets und der Mongolei. Stuttgart 197o,S. tcj). Mit dem Begriff Geist-Natur, der bereits vorkam, soll der tibetische Begriff rang-rig wiedergegeben werden. Diese Wiedergabe ist unzulänglich, doch leider weist die deutsche Sprache keinen Begriff auf, der dem tibetischen völlig oder weitgehend entspräche. Um also die notdürftige Übersetzungsvokabel dennoch mit dem im Original vorhandenen Sinn zu befrachten, soll sie wenigstens annähernd erklärt werden. Diese Geist-Natur gehört bis zu einem gewissen Grad der Bewußtseins-Konstituente an, übersteigt sie jedoch. Normalerweise ist jedes Bewußtseinsmoment auf ein Objekt hin determiniert. Wird durch und in der Meditation diese Determiniertheit aufgelöst, dann richtet sich die Kraft des Bewußtseinsmomentes nach innen, in sich selbst hinein und trifft in seinem eigenen Mittelpunkt auf sich selbst, die Leere, die Natur seines Geistes. Diese intuitive Schau und Einsieht in den eigenen Seinsmittelpunkt wird gleichsam erzwungen, indem dem Drang des Bewußtseins nach außen, zum Objekt hin, der Weg versperrt wird. Diese Einsicht in die Natur des Geistes ist nicht eine losgelöste, dualistische Erkenntnis, die dem erkannten Objekt gegenübersteht, sondern erfährt sich als identisch mit der Natur dessen, was Gegenstand und Inhalt der Einsicht ist. Die tibetische Tradition sagt, daß die Einsicht zum erschauten Inhalt sich verhalte wie ein Wassertropfen, der in Wasser fällt. Theoretisch betrachtet ist die Einsicht in die Natur des jeweiligen Bewußtseinsmomentes vergänglich. Da jedoch die Natur des Bewußtseinsmomentes identisch mit der Natur des Geistes in sich ist, und diese Natur immer gleich bleibt, bleibt auch die Einsicht konstant und damit unvergänglich. Der Begriff rang-rig bezeichnet also sowohl diese meditative Introspektion oder Ein-Sicht wie auch die Natur des Geistes an sich.

Im folgenden Kapitel wird auch mehrfach von Nervenkanälen gesprochen. Diese dürfen nicht mit den Nervenbahnen verwechselt werden, wie sie aus der westlichen Medizin bekannt sind. Diese Nervenkanäle sind keine somatischen Gegebenheiten, sondern Bahnen, die funktionale Strukturen des Bios bezeichnen. Ihre Existenz wurde nicht mit dem Seziermesser bloßgelegt, sondern in der yogischen Praxis. Für den Menschen, der gewohnt ist, die westliche Naturwissenschaft für die einzig mögliche Art der Weltbetrachtung zu halten, ist dies gewiß schwer verständlich. Kein Geringerer als der berühmte Physiker und Nobelpreisträger C. F. von Weizsäcker versuchte die im Yoga zu erfahrende Wirkweise des menschlichen Leibes mit westlichen naturwissenschaftlichen Denkmethoden zu betrachten und zu verstehen. (C. F. von Weizsäcker - Gopi Krishna: Biologische Basis religiöser Erfahrung. Weilheim 1971, 5. 24 ff.)
Im Text wird die Kenntnis um die Vorgänge in diesen Nervenkanälen als bekannt vorausgesetzt, weshalb ich hier kurz darauf eingehen möchte: Der Körper wird von drei großen Nervenkanälen durchzogen. Parallel zum Rückgrat verläuft der mittlere Kanal, rechts und links davon ein weiterer. Diese Nervenkanäle gleichen in ihrem Aufbau dem Bambus: horizontale Abschnürungen verhindern das ungehemmte Durchströmen der Vitalität, oder Lebenskraft, welche ihrerseits eng mit dem Lebensodem und darüber hinaus mit dem Atem verbunden ist. Zu Lebzeiten sind diese drei Nervenkanäle miteinander verknüpft, so daß die Vitalität eben nicht frei in ihnen fließen kann. Mit dem Tod löst sich diese Verkrampfung, die Vitalität fließt in den mittleren Nervenkanal. Das Umlegen der Leiche, wovon im Text gesprochen wird, verfolgt den Zweck, das Lösen der Nervenkanäle aus ihrer gegenseitigen Verstrickung zu erleichtern (vgl. Geshe Rabten: The Preliminary Practices. Library of Tibetan Works and Archives. Dharamsala 1976,5. 13 f.).


Die Geisteshaltung der Erleuchtung

Die Art und Weise der Anleitung: Wenn [der Sterbende] die Kraft hatte, bereits früher auf das eigene Heil hinzuarbeiten, [dann] erübrigt sich das folgende. Hatte er sie jedoch nicht, dann soll der Lama, der Schüler oder ein geistlicher Bruder, der ihm innerlich sehr verbunden war, nahe bei ihm dies vortragen:
»Nun ist das Zeichen da, daß sich Festes in Flüssiges auflöst, Flüssiges in Hitziges und Hitziges in Vitalität und Vitalität in Bewußtsein.«

So sind die äußeren Merkmale gleichsam der Reihe nach klar darzulegen. Sind die äußeren Merkmale [des Todes] nun nahezu vollständig, dann ermahne man [den Sterbenden] folgendermaßen, so daß er die Geisteshaltung der Erleuchtung [hervorbringe]:
»Sohn der Edlen«, oder, wenn er ein Lama war, »ehrwürdiger Herr, laß dein Denken sich nicht zerstreuen!« So flüstere man ihm mit leiser Stimme ins Ohr. War [der Sterbende] ein geistlicher Bruder oder ein anderer Mensch, dann rufe man ihn mit Namen und spreche:
»Edler Sohn, du bist nun hier bei dem angelangt, was man den Tod nennt. Die Geisteshaltung der Erleuchtung sollst du so hervorbringen!

»Wehe, da nun für mich die Todesstunde gekommen ist, will ich, gestützt auf dieses Todeserlebnis, nur Liebe, Mitleid und die Geisteshaltung der Erleuchtung in mir erwecken. Damit ich zum Heil aller Wesen, die [endlos] wie der Himmel sind, die vollkommene Buddhaschaft erlangen möge! «


Indem du dies denkst und die Geisteshaltung der Erleuchtung hervorbringst und besonders zu der Zeit, da du nach dem Heil aller Lebewesen [verlangst], wirst du das Licht im Tode als das Wesen des Wahren Seins erkennen. Aufgrund der Natur [dieses Lichtes] wirst du die höchste Vollendung des Großen Siegels erlangen und zum Heile aller Lebewesen wirken. Solltest du aber [diese höchste Vollendung] nicht erlangen, mußt du den Zwischenzustand als solchen erkennen und den Zustand des Großen Siegels gleichzeitig mit dem Zwischenzustand verwirklichen. Mit einer Gestalt, die zum Belehren [geeignet ist], wie immer sie beschaffen sei, mögest du zum Heile aller Lebewesen wirken, die [unendlich] wie der Himmel sind. Ohne den Gedanken an die Geisteshaltung der Erleuchtung aufzugeben, sollst du dich der früheren Unterweisung in der Meditation und ihrer Übung erinnern.«
Dies erkläre man mit klaren Worten, indem man den Mund nahe am Ohr [des Sterbenden hat], und helfe ihm, sich seine frühere Übung zu vergegenwärtigen, damit er nicht einen Augenblick in Zerstreuung verfällt.


Kommentar:
Die Geisteshaltung der Erleuchtung (skr. bodhicitta) ist das Charakteristikum des Mahayana-Buddhismus bzw. des Bodhisattva, der in seinem spirituellen und ethischen Streben eben kraft dieser Geisteshaltung die Erleuchtung verwirklicht. Worin besteht nun diese Geisteshaltung? Kurz und etwas vereinfacht gesagt, besteht sie in der festen Absicht, allen Lebewesen den Weg zur eigenen Befreiung zu weisen, sie also den Dharma zu lehren. Diese Absicht gründet sich auf das allumfassende, durch nichts zu entmutigende Mitleid des Bodhisattva mit allen Lebewesen. Da aber dieses Weisen des Weges zur Befreiung unermeßliches Wissen, sowohl faktisches wie auch pädagogisches verlangt, ist der Bodhisattva genötigt, erst selbst die Erleuchtung zu erlangen, um die Wesen in bester Weise und je nach ihren individuellen Fähigkeiten zu belehren. Da nicht jeder Anhänger des Mahayana-Buddhismus die ethische und geistige Kraft hat, die eigene Existenz total unter das Heil der anderen Wesen zu stellen, gibt es eine Vorstufe, die der Einübung dieser Geisteshaltung gewidmet ist. Man wünscht allen Lebewesen von ganzem Herzen Glück und Frieden, vermeidet alles, was ihnen Leid bringen würde, und widmet jedes Verdienst, das aus einer im heilsgeschichtlichen Sinne guten Tat erwächst, dem hohen Ziel, eben dem Heile aller Wesen. Um dieses Zieles willen erstrebt der Anhänger des Mahayana die Erleuchtung.
 

Einsicht in das Urlicht

Wenn danach der äußere Atem ganz versiegt ist und die Arterien, die sich im Schlaf befinden, stark gepreßt werden, spreche man dies wörtlich klar aus: Wenn er ein Lama, oder ein Gesche, größer als man selbst, war, [spreche man]:

»Ehrwürdiger, dir wird nun die Erscheinung des Urlichtes aufgehen. Dies erkenne als solches! Ich bitte dich, nimm diese Übung auf dich.«

So bitte man ihn. Alle anderen [Sterbenden] unterweise man folgendermaßen:

»Sohn der Edlen, N. N., höre! Dir wird nun das reinste Licht des Wahren Seins aufleuchten. Dies mußt du erkennen! Sohn der Edlen, das innewohnende Sein deines gegenwärtigen Erkennens ist eben diese bloße Leere; diese hat auch kein Sein als Ding, Phänomen oder Farbe, sondern ist bloße Leere. Dies eben ist die absolute Wirklichkeit als [der weibliche Buddha] Samantabhadra. Da dein Erkennen bloß in Leere besteht, laß diese Leere nicht bedeutungslos werden: Dieses noch nicht vergangene Erkennen ist eben der klare, leuchtende Geist, ist der männliche Buddha Samantabhadra. Deine eigene Geist-Natur ist leer an innewohnendem Sein und an jeglicher Substanz, während dein Intellekt leuchtend klar ist. Diese beiden [Geist-Natur und Intellekt] sind untrennbar, und sie sind das Wahre Sein, der Buddha. Deine Geist-Natur, gleichermaßen klar und leer, besteht in einer Fülle von Licht, und da sie frei von Werden und Vergehen ist, ist sie eben der Buddha des unvergänglichen Lichtes [i. e. Amitabha]. Dies erkenne! Hast du deine eigene geistige und intellektuelle Natur als leer an einem innewohnenden Sein, als Buddha erkannt, dann schaue selbst auf deine geistige Natur. Dies ist das Versunkensein in die Andacht des Buddha.«

So soll man drei- bis siebenmal deutlich und klar vorlesen. Da damit [der Sterbende] sich erstens der Unterweisungen seines früheren Lamas erinnert, zweitens die nackte eigene Geist-Natur als lichthaft erkennt und da er drittens vom Wahren Sein nicht mehr zu unterscheiden ist, nachdem er sein eigenes Sein erkannt hat, wird er sicher befreit. Damit kann er durch die Einsicht in das Urlicht beim erstenmal befreit werden.
Auch wenn man zweifelt, ob [der Sterbende] das erste Licht begriffen hat, so wird ihm das, was man das zweite Licht nennt aufscheinen. Was dessen Dauer betrifft, so währt es, nachdem der äußere Atem versiegt ist, etwas länger, als man zum Verzehren einer Mahlzeit braucht. Je nach der Qualität des Karma entweicht die Vitalität [aus dem mittleren Nervenkanal] in die entsprechende rechte oder linke und tritt aus der jeweiligen Körperöffnung hervor, womit das Bewußtsein Klarheit gewinnt. Wenn gesagt wurde, [dieser Zustand] dauere so lange, wie man braucht, um eine Mahlzeit zu verzehren, dann beruht das auf der Qualität seiner Nervenbahnen und dem Ausmaß seiner yogischen Übungen. Zu dieser Zeit, da das Bewußtsein ausgetreten ist, kann [der Tote] nicht erkennen, ob er gestorben ist oder nicht. Er wird seine Verwandten wie früher erblicken und ihr Weinen und Klagen hören. So lange, wie die trügerischen Erscheinungen des Karma und die Angst vor dem Todesgott noch nicht aufgetreten sind, soll man auch in der Unterweisung fortfahren. Hierbei besteht ein Unterschied zwischen jenen, die die Stufe der Vollkommenheit, und denen, die die Stufe der Imagination, erreicht haben: Wenn [der Tote] die Stufe der Vollkommenheit erreicht hat, rufe man ihn dreimal bei seinem Namen und erkläre ihm wiederholt die obige Unterweisung über das Licht. Wenn er die Stufe der Imagination erreicht hat, lese man ihm das Haupt-Sadhana und ikonographische Beschreibungen seiner jeweiligen Gottheit vor [über deren Erscheinung der Tote zu Lebzeiten meditierte]:
»Sohn der Edlen, betrachte deine schützende Gottheit!
Sei nicht zerstreut und versenke dich mit großem Eifer in die schützende Gottheit! Ihre Erscheinung betrachte als ohne substantielles Sein, gleich [dem Spiegelbild des] Mondes im Wasser! Du sollst sie nicht als materiell betrachten!«
So unterweise [der Lama den Toten] klar. War [der Tote] ein gewöhnlicher Mensch, dann unterweise man ihn mit den Worten: »Betrachte den Herrn des Großen Mitleids (Avalokiteshara)!« Da man in dieser Weise [dem Toten] zur Einsicht verhilft, werden sogar ohne Zweifel diejenigen [die Wahrheit] begreifen, die [von sich aus] den Zwischenzustand nicht erfassen könnten.


Kommentar:
Das Wort Einsicht wurde bewußt gewählt, um den hier gemeinten Vorgang vom Erkennen abzusetzen, das doch vielmehr das intellektuelle Wahrnehmen von Faktischem bedeutet als das intuitive, das Wesen des Menschen zutiefst verändernde Einsehen. Alexander Gosztonyi formulierte es zutreffend:
»Während die rationale Geistigkeit den Menschen zur Erkenntnis führt, ermöglicht die transzendentale die Einsicht. Einsicht ist das Erfassen der inneren Zusammenhänge der Welt.« (Grundlagen der Erkenntnis. München 1972, 5. 260.)
Diese fundamentale Einsicht, daß das dem eben Verstorbenen erscheinende Licht Geist ist, wird durch zwei Methoden ermöglicht. Die erste besteht darin, daß das Licht als Buddha Amitabha erfahren wird, die zweite darin, daß das Licht als der eigene Yi-dam erlebt wird. Über Buddha Amitabha wurde bereits gesprochen. Er ist der Buddha des unermeßlichen Lichtes, nicht eines irdischen Lichtes, sondern eines transzendenten Lichtes, das der Grund alles Daseienden ist. Im Licht allein ist die unfaßbare Wirklichkeit der Phänomene, eben ihre Leere, zu erschauen. Der Gläubige, dem die meditative Imagination des Buddha Amitabha vertraut ist, kann nun leicht zur Einsicht in die wahre Natur dieses Lichtes kommen, wenn er dieses eben mit dem Wesen des Buddha gleichsetzt.
Gleiches trifft für den Yi-dam zu. Doch vorher muß dieser Begriff, für den leider kein europäisches Wort eine geeignete Wiedergabe darstellt, erklärt werden. Er bezeichnet jenen im Menschen eingeborenen Genius, der einesteils aufs innigste mit dem Wesen des Menschen verquickt ist, andererseits aber den Menschen überragt und eben deshalb helfend und leitend ihm beisteht. Diese Vorstellung findet sich bei vielen Religionen, man denke nur an den Schutzengel im Christentum. Der Yi-dam ist also sowohl ein Wesen, das die Natur des Menschen in ihrer individuellen Ausprägung umgreift, über diese aber auch hinausführt und daher am Göttlichen teilhat. So werden in Tibet die Yi-dams meist in schreckenerregender Gestalt dargestellt, mit vielen Attributen des Grauens ausgestattet und doch als ein bis ins Innerste gütiger Bodhisattva verstanden. Dieses schreckvolle Äußere entspringt seinem Wunsch, den Menschen möglichst wirkungsvoll zu leiten und zu führen. Die Verbindung zwischen Yi-dam und Gläubigen wird in einer tantrischen Einweihung begründet; fortan besteht ein intimes Band zwischen beiden, das stets vor dem Zugriff der anderen geschützt wird. Avalokiteshvara, der im Text meist als Herr des Mitleids oder als Großer Mitleidsvoller bezeichnet wird, ist einer jener großen, die Welt überragenden Bodhisattvas, die in ihrem Streben, allen Wesen den Weg zur Befreiung vom Leid zu zeigen, Übermenschliches vollbringen. Ihr Mitleid ist allgegenwärtig, und kraft eines Versprechens, das jeder dieser großen Bodhisattvas in der Vergangenheit feierlich abgelegt hat, wird, wer sich vertrauensvoll um Hilfe an sie wendet, diese auch erfahren. Natürlich kann dies nur dann geschehen, wenn das eigene Karma dem nicht im Wege steht, denn auch ein Bodhisattva kann die Kraft des Karma nicht aufheben. Er kann den Gläubigen nur beeinflussen, seine innere Haltung zu ändern und so den negativen Tendenzen seines Karmas zu begegnen.

 

 

 

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