DAS TIBETISCHE BUCH DER TOTEN
BARDO-THÖDOL



AUS DEM ZYKLUS

 

EINE TIEFSINNIGE BELEHRUNG ZUR SPONTANEN BEFREIUNG DURCH DIE ANDACHT DER
FRIEDVOLLEN UND SCHRECKLICHEN GOTTHEITEN



IST DIES DIE GROSSE BEFREIUNG DURCH HÖREN,

EIN GEBET FÜR DEN ZWISCHENZUSTAND DES WAHREN SEINS

Editiert und kommentiert von Eva K. Dargyay und Geshe Lobsang Dargyay

 

Huldigung
Einleitung

Wann der »Bardo-thödol« nicht zu lesen ist
Das Lesen des »Bardo-thödol«
Opferung und vorbereitende Gebete
Aufbau des »Bardo-thödol«

 

Huldigung


Om! Verehrung sei den Lamas in ihrer dreifachen Seinsweise:

im Wahren Sein als grenzenloses Licht Amitabhas,
im Mitteilenden Sein in der Gestalt der Friedvollen und Schrecklichen Gottheiten der Lotos-Kategorie,
im Wirkenden Sein als Padmasambhava, der gekommen ist als Herr der Lebewesen!

Für die mittelmäßigen Yogi bietet die große Lehre zur Befreiung durch Hören drei Methoden, um im Zwischenzustand erlöst zu werden: Einleitung, Grundgedanken und Folgerung.




Kommentar:
In dem Titel wird der Zyklus Die spontane Befreiung durch Andacht der tiefsinnigen friedvollen und schrecklichen Gottheiten als das große Sammelwerk bezeichnet, dem der nun folgende Text, also der Bardo-thödol entnommen ist. Dieser Bardo-thödol wird aber nicht in seiner Gesamtheit im Titel erwähnt, sondern nur der erste Teil desselben, der sich mit dem Zwischenzustand des wahren Seins befaßt.
Der Huldigungsvers, der dem eigentlichen Text vorangestellt ist, richtet sich zuerst an den eigenen Lehrer, der ja der Vermittler des Weges zur Befreiung ist, doch dann an alle Lehrer der eigenen Überlieferungskette und schließlich an den ersten der Lehrer, an Buddha. Der spirituelle Lehrer, und nur er ist unter dem Wort Lama zu verstehen, hat wesensmäßig Teil am wahren Sein, an jenem letzten Unfaßbaren, das hinter allem Bedingten, Vergänglichen, Phänomenalen aufscheint - gleich dem makellosen, strahlenden Himmel hinter den Wolken. Ja, die Aussage der einheimischen Tradition geht so weit zu sagen, der Lehrer ist dieses Unfaßbare.
Dieses Unfaßbare, das fortan im Text als das Wahre Sein bezeichnet wird, schimmert in vielen Begriffen durch, und doch trifft keiner wirklich zu. Dieser Mangel, der immer dann schmerzhaft spürbar wird, wenn unmittelbares Erleben dieses Unfaßbaren in Worte gefaßt werden soll, kennzeichnet auch diese Übersetzung. Die buddhistische Spiritualität suchte dieses Erfahren des Unfaßbaren, der Leere - wie die Texte sagen - in eine Facette von drei Aspekten zu fassen. Der religionshistorische Fachausdruck hierfür ist Konzeptionalisierung, d. h. das spontane, im eigentlichen unsagbare Erleben wird in Worte gefaßt - verbalisiert - und in eine gewisse Systematik zu bringen versucht. Es ist dabei selbstverständlich, daß die Verbalisierung schon nicht mehr die ursprüngliche Spontaneität und Frische des Erlebens hat und die Konzeptualisierung noch weniger davon bewahren konnte.
Diese drei Aspekte der Leere, der wahren Wirklichkeit - wie auch die Texte sagen - sind: 1. das Wahre Sein als der Bereich absoluter Weisheit, der wesensidentisch mit der Wirklichkeit ist, mit dem eigentlichen - eben leeren und unfaßbaren - Sein der Phänomene. Die Texte nennen diesen Aspekt dharmakaya, was wörtlich etwa »Leib der Wahrheit« bedeutet, wobei Leib in einem spirituellen Sinn zu verstehen ist. In diesem Zustand absoluten Seins ist der Buddha, er verharrt in der Schau dieser Leere, untrennbar von ihr, unzugänglich, allen Begriffen entrückt. In der Übersetzung steht dafür der Begriff »Wahres Sein«. 2. Da jede Persönlichkeit außer den kognitiven, intellektuellen Bereichen auch den Bereich des Ethischen miteinschließt, entfaltet sich das Wesen des Buddha in einer weiteren Sphäre. Die Texte nennen diesen Zustand sambhogakaya, was wörtlich den »Leib für das gemeinsame freudvolle Genießen« bezeichnet. Damit ist ein Seinszustand gemeint, in dem der Buddha für andere Wesen als Lehrer und Vermittler der letzten Weisheit erfahrbar wird. Aus dem Schatz der Weisheit, die sein Wahres Sein im dharmakaya ist, teilt er sich freudvoll den ihm fast ebenbürtigen Wesen mit. Dieses Mitteilen im Lehren ist der gemeinsame, freudvolle Genuß des Buddha und aller Wesen, die mit ihm dieses Erlebnis teilen. In der Übersetzung findet sich dafür der Begriff »Mitteilendes Sein«. Dieses gemeinsame Erleben der Offenbarung der Weisheit im Lehren des Buddha schafft eine eigene Sphäre, die ganz durchdrungen ist vom charismatischen Wirken des Buddha. Die Texte sprechen vom Wirkfeld des Buddha (buddhaksetra). In der Übersetzung steht dafür der Begriff »Reines Gefilde«, um die Entrücktheit dieser Sphäre anzudeuten, die natürlich keinesfalls örtlich oder dinglich aufzufassen ist. 3. Das Mitteilende Sein des Buddha gründet in seinem umfassenden, jedes atmende Wesen einschließende Mitleid. Die Wesen, die um ihre eigentliche Natur nicht wissen, die in Leid verstrickt sind, fordern das Mitleid des Buddha heraus. Und so zeigt der Buddha einen weiteren Aspekt seines Seins, der einer größeren Zahl von Lebewesen, die auch Unwissende und Böse umfaßt, erfahrbar ist. Er erscheint in der Gestalt eines Menschen, der den Unwissenden den Weg zur Erleuchtung zeigt. In der Übersetzung steht dafür der Begriff »wirkendes Sein«. So ist nach der Lehre des Mahayana der historische Buddha unserer Ära, Shakyamuni, nicht das eigentliche Wesen des Buddha, sondern eine Erscheinung seines wirkenden Seins.
In dem Verehrungsvers werden diese drei Aspekte des Seins mit weiteren Metaphern verbunden. Amitabha, der Buddha des Grenzenlosen Lichtes, wird mit dem Wahren Sein verbunden, denn dieses ist - wie wir in der Einleitung sahen – Licht und nur Licht, Transparenz in sich. So ist der Lama im Wahren Sein Amitabha, das Licht, die Weisheit. Im Mitteilenden Sein des Lama wird dieser als die göttlichen Wesen erfahren, die im Reinen Gefilde im gemeinsamen Hören und Schauen die Lehre des Buddha genießen. Es sind dies die Gottheiten der Lotus-Gruppe, die auf Amitabha als ihren Herrn und Lehrer ausgerichtet ist. Und schließlich erweist sich der Lehrer im Wirkenden Sein als Padmasambhava, jener große Lehrer der Tibeter, auf den in der Einleitung hingewiesen wurde. So entfaltet sich im Lama ein Kosmos spirituellen Erfahrens, er ist Weg und Symbol des eigenen Wandels.

 

Einleitung


Wann der »Bardo-thödol« nicht zu lesen ist

Um die Befreiung der Wesen herbeizuführen, befolge man in erster Linie der Reihe nach die einzelnen mystischen Anweisungen. Wer einen scharfen Geist hat, gewinnt die Befreiung sicher [schon] durch die Befolgung der mystischen Anweisungen. Wer jedoch nicht befreit wird, der übe im Zwischenzustand der Todesstunde [die Anweisung] Die spontane Befreiung durch bloßes Sich-Vergegenwärtigen der Bewußtseinsübertragung. Dadurch werden mittelmäßig Strebende sicher befreit werden. Sollten sie jedoch nicht befreit werden, dann sollen sie im Zwischenzustand des Wahren Seins sich der Großen Befreiung durch Hören befleißigen. So soll der Sterbende in Übereinstimmung mit der Spontanen Befreiung durch die Betrachtung der Vorzeichen des Todes die Anzeichen des Todes untersuchen. Zur Zeit, da die Anzeichen des Todes untrüglich und vollständig wahrgenommen werden, soll man die Anweisungen der Spontanen Befreiung durch bloßes Sich-Vergegenwärtigen der Bewußtseinsübertragung befolgen. Hat man hierbei [das Bewußtsein des Sterbenden] erfolgreich übertragen, so braucht man die Große Befreiung durch Hören nicht mehr zu lesen.

Kommentar:
Im folgenden werden bestimmte Personen ausgeklammert, denn für sie ist die Anwendung des Bardo-thödol sinnlos da ihre spirituelle Entwicklung bereits so fortgeschritten ist, dass sie ohnehin über die nötige Einsicht verfügen, um die wahre Natur der Phänomene zu erkennen. Als zweites werden all jene ausgeklammert, die zu Lebzeiten die Bewußtseinsübertragung praktizierten. Diese Meditationsmethode wurde ja bereits in der Einleitung ausführlich besprochen und bedarf daher hier nicht mehr der Erklärung. Wer also durch die Meditation der Bewußtseinsübertragung seine eigene Geist-Natur mit Amitabha, dem Buddha des Grenzenlosen Lichtes, zu vereinigen imstande ist, braucht den Bardo-thödol nicht mehr. Aus dem entsprechenden Kapitel in der Einleitung ist bekannt, daß die Bewußtseinsübertragung der Lama auch für den Toten vornehmen kann. Ein Lama, der hierzu in der Lage ist, weiß auch, ob sein Bemühen gelungen ist. Trifft dies zu, dann wird er den Bardo-thödol nicht mehr lesen. Für alle anderen aber ist das Lesen des Bardo-thödol unerläßlich!



Das Lesen des »Bardo-thödol«

Gelingt es nicht, das Bewußtsein zu übertragen, dann muß man vor der Leiche mit klarer und deutlicher Stimme diese Große Befreiung durch Hören lesen.
Ist jedoch die Leiche nicht da, so soll man sich auf dem Schlaf- oder Sitzplatz des Toten niederlassen und - da man ein Wahrheitswort ausspricht - den Geist des Verstorbenen herbeirufen. Diesen stellt man sich vor, wie er vor einem sitzt und zuhört. So soll man nun lesen! Da zu dieser Zeit es für die Verwandten und die mit dem Sterbenden liebevoll Verbundenen unpassend ist, zu weinen und zu wehklagen, ist solches streng verboten.
Wenn die Leiche da ist, dann soll der Lama [des Verstorbenen], ein geistlicher Bruder, einer, zu dem der Tote Vertrauen hatte, oder ein gleichgesinnter Freund oder ein ähnlicher zu dem Zeitpunkt, da der äußere Atem bereits versiegt, der innere Lebensodem sich aber noch nicht verflüchtigt hat, diese Große Befreiung durch Hören lesen, und zwar mit dem Mund nahe am Ohr des Toten, ohne es zu berühren.



Opferung und vorbereitende Gebete

Nun die hauptsächliche Erklärung zur Großen Befreiung durch Hören: Wenn Entsprechendes zur Hand ist, bringe man den Drei Kostbarkeiten reichliche Opfergaben dar! Ist nichts zur Hand, dann opfere man ihnen, indem man eben das, was als Stütze der Vorstellung vorhanden ist, im Geist unendlich vermehrt. Danach spreche man drei- oder siebenmal ein Gebet, in dem man die Buddhas und Bodhisattvas um Unterstützung bittet.
Danach sind folgende Gebete zu singen: »Schutz vor den Schrecken des Zwischenzustandes«, »Befreiung aus dem Abgrund des Zwischenzustandes« und »Grundlegende Worte für den Zwischenzustand«. Danach rezitiere man die Große Befreiung durch Hören, je nach den Umständen, drei- oder siebenmal.



Aufbau des »Bardo-thödol«

[Diese ] besteht aus drei Teilen:

1. Einsicht [in die Natur] des Urlichts im Zwischenzustand der Todesstunde

2. Das Rezitieren des großen Gebets, das den Zwischenzustand des Wahren Seins darlegt

3. Die Lehre, wie das Eingehen in den Mutterschoß im Zwischenzustand des Werdens zu verhindern ist



Kommentar:
Der Text des Bardo-thödol kann im Prinzip von jedermann, der dazu in der Lage ist, gelesen werden. Wie ja überhaupt der gesamte Komplex der Amitabha-Meditation, des Sukhavati-Gebetes, der Bewußtseinsübertragung und des Bardo-thödol in besonderer Weise für die Laien geeignet ist. Der Brauch, mit Hilfe eines sog. Wahrheitswortes Einfluß auf ein sonst nur schwer zu bestimmendes Geschehen zu nehmen, ist in Indien seit ältester Zeit verbürgt und nicht auf den Buddhismus beschränkt. Hierbei wird in einem Satz eine unbezweifelbare Wahrheit ausgesprochen, deren Inhalt sogar trivial anmuten kann, und - so fährt dieser Satz fort - kraft dieser Wahrheit möge dieses oder jenes geschehen. Das Wort, in dem sich für den Menschen die Welt widerspiegelt, ermöglicht ihm erst das Wissen von der Welt und von sich selbst. So ist es nur zu verständlich, daß in vielen Religionen dem Wort eine zwingende, ja magische Wirkung zugeschrieben wird. In dem hier gegebenen Zusammenhang wird der Lama eine der buddhistischen Wahrheiten aussprechen und fortfahren, daß kraft dieser Wahrheit der Geist des Verstorbenen nun ihm zuhören möge.
Die Lesung beginnt mit dem Darbringen von Opfergaben für die Drei Kostbarkeiten, das sind Buddha, Dharma - die wahre Lehre über die Natur der Phänomene - und Sangha - die Gemeinde der Strebenden im allgemeinen; im besonderen ist darunter die Mönchsgemeinde zu verstehen. Diese Drei Kostbarkeiten sind das Objekt der Verehrung für den Buddhisten. Die Opferung ist jedoch nicht von irgendwelchen materiellen Dingen abhängig, vielmehr stellt man sich alle Kostbarkeiten der Erde vor, bemächtigt sich ihrer also im Geiste, und bringt sie symbolisch dar.
Die gegen Ende dieses Abschnitts angeführten Gebete sind nicht nur zu Beginn der Lesung des Bardo-thödol zu rezitieren, sondern auch am Schluß.

 

 

 

 

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